Hunger

Kein Zweifel, die Sache mit den Konzerten hat sich verselbstständigt. In der kleinen Fabrikhalle, einst Herzstück der Metallhüttenwerke, herrscht dichtes Gedränge, als gäbe es keine Abmachung: nur Freunde und gute Bekannte. Grob geschätzt warten im Schummerlicht schwacher Lichterketten dreihundert Leute. Mindestens. Das reinste Sicherheitsrisiko. Es wird geraucht und getrunken, die Luft ein zäher Brei. Liv hat jedenfalls keine dreihundert Freunde. Nicht mal dreißig, sondern höchstens eine Handvoll. Wenn sie ihren Großvater und Volker Sanders mitzählt, verheiratet, vier Töchter. Niemand hat dreihundert Freunde. Vermutlich nicht einmal der Holländer, trotz des schicken Wagens. Sie beobachtet halb amüsiert, halb genervt, wie er sich als DJ produziert.Aus den Boxen quillt düsterer Lärm, dem zwar ein Rhythmus zugrunde liegt, ein fesselnder sogar, jedoch keine erkennbare Melodie.

Als sie die Band gründeten, war von Auftritten überhaupt keine Rede, sie fanden lediglich Gefallen daran, in den abbruchreifen Gemäuern, die ihnen anvertraut worden waren, zusammen zu musizieren, später auch zu komponieren, berauscht durch die besondere Akustik und Atmosphäre der todgeweihten Industrieanlagen. Die ersten Proben hatten etwas von einer Verschwörung, sie fühlten sich kühn und frei. Bis irgendwann die Freundinnen und Ehefrauen der anderen Bandmitglieder zum Zuhören kamen. Unangemeldet. Dann deren Freundinnen mit Anhang, jedes Mal ein paar mehr, bis aus Proben Gigs wurden, sie in einem Hinterhofstudio einige Songs aufnahmen und anfingen, unter dem Namen »Die Sprengberechtigten« CDs zu verkaufen. Unter der Hand. Immerhin eine nette Einnahmequelle. Seitdem haben sie es nicht mehr im Griff. Ganz offensichtlich.

Volker gesellt sich zu ihr. Um sich verständlich machen zu können, muss er ihr direkt ins Ohr brüllen. »Uns geht bald das Bier aus. Die saufen wie die Löcher. Lass uns endlich anfangen, Engel.«

»Wenn das Bier aus ist, gibt es halt nichts mehr. Wieso habt ihr Trottel überhaupt so viele Leute reingelassen? Seid ihr irre? Was ist, wenn das Ordnungsamt dahinterkommt? Wenn irgendetwas schiefgeht, können wir einpacken.«

Volker kratzt sich am Vollbart. »Was hätten wir machen sollen? Die kannten alle das Codewort. Passt schon. Was soll schiefgehen? Unsere Fans sind nicht auf Randale aus, schau dich um, die haben einfach Spaß. Und die meisten sind sogar halbwegs erwachsen.«

»Aber total besoffen. Das geht nicht, dass die hier auf der Baustellerumturnen.«

»Dann bringen wir die Sache hinter uns und schmeißen sie raus. Beim nächsten Mal mieten wir eine Bar oder einen Club, wie eine ganz normale Feierabendband.« Er zieht seine Drumsticks aus der Gesäßtasche und schlendert auf die Bühne zu, ein Konstrukt aus Euro-Paletten, mit speckigen Teppichen belegt und einem neunarmigen Stand-Kerzenleuchter als Dekoration.

»Es wird kein nächstes Mal geben«, murmelt Liv und folgt ihm. Vielleicht sollte sie wenigstens die Kerzen ausblasen.

Anfangs hat sie Schlagzeug gespielt und Volker hat gesungen. Liv wollte es so, sie hoffte, sich auf diese Weise abreagieren zu können – vom Leben, von der Arbeit –, was vorübergehend sogar funktioniert hat. Leider ist sie keine überzeugende Schlagzeugerin und Volker allenfalls ein mäßiger Sänger, und das blieb den anderen Sprengberechtigten nicht verborgen, weshalb sie auf deren Drängen die Rollen tauschten.

Als Liv zu singen beginnt, passiert etwas in den Reihen der Zuschauer: ein Raunen, wie bei einem Feuerwerk, die Aufmerksamkeit fliegt ihr zu.Auch Henk, der Holländer, der mit seinem Keyboard zum ersten Mal bei einem Auftritt mitwirkt und sie während der Proben nur schwer erkältet als Sängerin erlebt hat, hebt überrascht den Kopf und lächelt ihr zu. Ihm zuliebe hält sie den Ton über den Akkordwechsel hinaus einen Takt länger als sonst, vergessen sein Missgeschick. Er ist ein netter Kerl, wie alle Kollegen.Applaus. Liv kennt und genießt die Ergriffenheit, die ihr heller, beinahe knabenhafter Gesang auslöst. Im echten Leben braucht sie länger, um Sympathien zu wecken. Es erstaunt sie selbst immer wieder, dass ihre Stimme in den Jahren der Rebellion gegen ihre Eltern nicht die Unschuld verloren hat. Jahre, in denen sie ständig fortlief, die Schule schwänzte, in schlechte Gesellschaft kam, kreuz und quer durch Europa bis nach Lissabon trampte und viel zu viel rauchte und trank. Wenn im Kreise der Familie Engel jemals so etwas wie Harmonie aufkam, dann Weihnachten, solange sie, von ihrem Großvater am Klavier begleitet, »Stille Nacht« sang. Drei Strophen Frieden. Sie hat sich nie geziert.Von einer feierlichen Überheblichkeit beseelt, gab sie sich der Illusion hin, wenigstens vorübergehend alles unter Kontrolle zu haben, indem sie die von Feindseligkeiten vergiftete Luft einsog, zum Schwingen brachte und in etwas Klangvolles verwandelte. Ganz leicht ging das. Seither verschafft Singen ihr Gelassenheit und hin und wieder eine Ahnung vom Leben an sich. So ähnlich wie ein Tag am Meer.

Die Musik schwillt an. Schlagzeug, Bass und E-Gitarre ringen um Dominanz, ein kontrolliertes Chaos, das Keyboard kreischt im Stil einer Hammond-Orgel. Liv schließt die Augen.Am Zaun gleich hinter der Startbahn stehen, Flugzeuge zum Greifen nah, so ungefähr muss sich das anfühlen.Ausprobiert hat sie es nie. Warum eigentlich nicht?

Die meisten ihrer Stücke beginnen ruhig, steigern sich, driften einer Explosion entgegen, zu der es manchmal kommt, manchmal nicht. Über allem schwebt nahezu unbeteiligt Livs Stimme, melodiös, schlicht und klar.

Sie stellt sich vor, wie gut sie beim Singen aussieht, viel jünger als siebenunddreißig, mit den langen Haaren, die im Scheinwerferlicht rötlich schimmern, und der schlanken Figur, betont durch schwarze Röhrenjeans, und auf einmal ist sie froh über so viel Publikum. Vielleicht ist sie doch ein bisschen eitel.

Liv genießt die Gunst der Stunde, bis eine Erinnerung sie stört: Beim letzten Konzert ließ ihr Exmann sich blicken, fand alles krank, die Lieder, die Räumlichkeiten, das Publikum. Er unterteilt die Welt gern in krank und gesund. Gesunder Menschenverstand, gesunder Respekt, gesunder Lebenswandel – seine treusten Gefährten. Liv hingegen macht ihn krank, heute noch. Deswegen hatte er die Scheidung gewollt.

Sie spielen etwa eine Stunde. Drei Zugaben,Applaus, Feierabend. Zu Livs Erleichterung leert sich die Fabrik zügig und ohne Zwischenfälle, es ist kalt geworden, trotz Heizstrahler, die Leute wollen nach Hause. Sie hat noch ein Bier aufgetrieben und albert mit den Kollegen herum, bis Volker sich verabschiedet, weil er seine Frau daheim nicht länger warten lassen will, worauf es plötzlich alle außer Liv eilig haben. Ein schönes Konzert. Sie wünschte, Tönges wäre dabei gewesen.

Jemand lehnt an ihrem Auto. Eine schlaksige Gestalt, mehr ist in der klammen Dunkelheit nicht zu erkennen. Ein Jugendlicher höchstwahrscheinlich, die Haltung lässt es vermuten, schlaff und angespannt zugleich. Bevor Liv in Panik geraten kann, ist Volker an ihrer Seite, der aufmerksame Volker mit Taschenlampe, der, wenn es spät geworden ist, ein ums andere Mal anbietet, sie heimzufahren oder zum Auto zu begleiten, obwohl er nicht nur mit ihrer Ablehnung, sondern auch mit Spott rechnen muss.

»Hast du eine Verabredung, Engel?«

»Nein.«

»Hey!« Er richtet den Lichtstrahl auf die Gestalt am Auto. Ein bekanntes Gesicht. Volker schaltet vor ihr, spricht den Namen aus, als sie noch danach sucht. Aaron.

Wie begrüßt man sein Kind, wenn es einem zur Schlafenszeit am Auto auflauert, nachdem man lange, zu lange nichts voneinander gehört hat, weil es beim Vater lebt? Wenn man ausgerechnet in dieser Situation – die der Vater vermutlich zu Recht als krank bezeichnen würde – feststellen muss, dass das Kind keines mehr ist, was sagt man dann? Bist du aber groß geworden? Guten Abend? Oder: Was, zur Hölle, hast du hier zu suchen?

»Was, zur Hölle, hast du hier zu suchen?«

»Guten Abend, Aaron«, sagt Volker.

»Hi. Cooles Konzert.«

»Ich hab dich was gefragt.«

»Dich suche ich hier. Wen sonst?« Er steht ihr im Weg, reglos gegen die Fahrertür gelehnt, gibt sich gelangweilt, aber seine Nervosität ist nicht zu übersehen. Nervosität und Ablehnung. Dass er Liv ablehnt, ist nicht neu, sie kann es ihm nicht verdenken, alles andere wäre eigenartig. Doch normalerweise bevorzugt er Ablehnung auf Distanz, begnügt sich mit verächtlichen Bemerkungen am Telefon. Die seltenen Anrufe sind kurz. Meistens will er Geld für irgendetwas, das seinem Vater und dessen Frau, Aarons neuer Mutter, zu teuer ist. Liv überweist die gewünschte Summe stets noch am gleichen Tag.

Volker räuspert sich. »Tja, ich mach mich besser mal vom Acker, ihr zwei. Gute Nacht. Vertragt euch«, sagt er und geht.

Sie schauen dem davon hüpfenden Strahl der Taschenlampe nach, bis die Nacht ihn verschluckt.Am Himmel keine Sterne. In der Nähe schlägt eine Autotür zu. Liv zieht ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnet per Knopfdruck die Zentralverriegelung. Die Innenbeleuchtung geht an. Aaron rührt sich nicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag ist sie nicht sehr weit davon entfernt, die Beherrschung zu verlieren.

»Aaron, was soll das?«

»Was soll was?«

»Warum versperrst du die Tür? Steig ein. Es ist spät, ich will nach Hause.«

»Nimmst du mich mit?« Er klingt verzagt, für einen Moment kehrt das Kindliche in sein Gesicht zurück.

Was denkt der Junge bloß von ihr? »Natürlich. Ich werde dich wohl kaum hier allein lassen.« »Bei dir weiß man nie.«

Sie schnaubt. »Du wirst deinem Vater immer ähnlicher.«

Endlich macht er Platz. Liv schlüpft hinter das Steuer, schaltet das Abblendlicht ein, lässt den Motor an und stellt die Heizung auf Maximum, während sie wartet, dass der fremde Sohn sich auf den Beifahrersitz bequemt. Doch er denkt nicht daran. Er ist zu Fuß losgestapft. Sie haut auf die Hupe, vor Hilflosigkeit und Wut zittrig. Keine Reaktion. Am besten lässt sie ihn ziehen, um ihrer beider willen. Nein, unmöglich, er ist erst zwölf. Oder dreizehn.Auf jeden Fall zu jung für nächtliche Streifzüge durch die Stadt. Ohne den Motor auszuschalten, steigt sie aus.

»Komm sofort zurück.«

Er beschleunigt seinen Schritt. Dieser Mistkerl. Es reicht. Sie rennt zu ihm, packt sein Handgelenk. »Du steigst jetzt sofort in dieses verdammte Auto.«

Er will sich losreißen. Sie dreht ihm den Arm auf den Rücken. Ihr Griff ist so fest, dass er aufjault. »Was, wenn nicht?«, ruft er schrill. »Das willst du nicht wissen,Aaron, das schwör ich dir.«

Nach dem Frühstück ist es so sonnig, dass Fritzi beschließt, an den Strand zu gehen. Sie spielt sogar mit dem Gedanken, das Geschirr stehen zu lassen. Wer sollte sich daran stören? Die Möglichkeit lähmt sie. In letzter Zeit tauchen überall Fragen auf, wo ein Leben lang Ordnung und Klarheit herrschte: Soll sie heute oder morgen Keksebacken? Ist es wirklich nötig, Bettzeug und Unterwäsche zu bügeln, und wozu muss eine Diele täglich gefegt werden, die kaum jemand betritt, von Geistern abgesehen? Die vielen Handgriffe sind ermüdend, das ungewohnte Nachdenken darüber ist es auch. Sie entscheidet sich für den Abwasch, es ist ja nicht viel, die Kaffeetasse, ein Messer und das Holzbrett, eine lächerlich kleine Aufgabe, wenn sie sich die Berge von schmutzigem Geschirr in Erinnerung ruft, die früher in diesem Haushalt zu bewältigen waren.

Als sie schließlich vor die Tür tritt, fängt es an zu regnen. Sie lässt sich nicht beirren. Ihr Mantel aus Schafswolle, selbstgestrickt im eisigen Winter von 1976, hält einiges aus. Ein ausgesprochen hässliches Kleidungsstück, grau und unförmig, auf Muster hat sie ganz verzichtet. Sie war nie eine begabte Strickerin, verglichen mit den einheimischen Frauen. Doch immerhin wärmt der Mantel sie seit mehr als dreißig Jahren. Seit sechzig Jahren hat sie die Heimat nicht gesehen. Unglaublich, wie alt sie geworden ist.

Am Strand Sintflut. Wohin Fritzi sich wendet, eine Wand aus Wasser, Regen, so undurchdringlich, dass sie kaum sieht, wohin der nächste Schritt sie führt.Zum Meer hin ist es heller, draußen auf offener See hält sich der Morgensonnenschein. Sie geht auf das Licht zu. Es wird gleißend. Je näher sie der Brandung kommt, desto mehr schmerzt es in den Augen. Mit Getöse werfen sich die Wellen auf den schwarzen Sand. Der Norden versteht sich nicht auf Milde. Die Gischt greift nach ihr, das Wasser, das in ihre Stiefel rinnt, ist eisig. Immer. Im Sommer wie im Winter, im Frühling wie im Herbst.

Eben war März, jetzt ist Juli, und sie ist nicht mehr alt, sondern jung. Sie erwartet ihr erstes Kind, ist frisch verheiratet. Einige Tage zuvor hat Urgroßmutter Finna eine ihrer Geschichten erzählt. Sie saßen beim Feuer und aßen Klippfisch, dick mit Butter bestrichen, es war spät am Abend, aber nicht dunkel, silbriger Glanz über den Bergen. Die Alte hob auf einmal ihre Kleider, um ihren Bauch zu zeigen, der aus nichts als Narben zu bestehen schien. Ihre Stimme im Flüsterton: »Heute weiß kaum noch jemand, dass Seehunde vom Geruch Schwangerer angelockt werden. Sie reißen die Frauen auf und fressen die Leibesfrucht. Ungeborene Kinder – die Seehunde sind verrückt danach. Immer wenn ich in anderen Umständen war, schickte Olafur mich als Köder an den Strand, Gott sei ihm gnädig, es war der Hunger, der ihn dazu brachte. Wir brauchten das Seehundfleisch. Drei Jahre ist alles gut gegangen, drei Mädchen. Beim vierten Kind waren wir nicht schnell genug. Es war ein Junge, ich weiß es genau.«

Hunger. Fritzi weiß, was Hunger bedeutet. Vom Schlafen gehen mit knurrendem Magen bis zur Bereitwilligkeit, alles zu essen, was verfügbar ist, verschimmeltes Brot, ranziges Fett, faules Obst oder Löwenzahn, der zwischen Bahngleisen wächst. Sie weiß, wie es ist, aus Hunger zu stehlen. Seither teilt sie nicht gern, doch das ist nicht der Grund dafür, dass sie das Kind nicht will. Sie haben genug zu essen. Sie hat keine Erklärung für ihr Verhalten.

Die Strömung zerrt an ihren Füßen, wirft sie beinahe um. Käme tatsächlich ein Seehund, ihr Ungeborenes zu reißen, sie wäre ebenfalls verloren. Ein hoher Preis. Sie ist bereit, ihn zu zahlen.Aber dazu kommt es nicht. Ein Schrei, lauter als die Brandung, lässt sie zurückblicken. Jón rennt über den Strand auf sie zu, wirft sich gegen den Wind, die langen Arme schon nach ihr ausgestreckt, als er noch weit entfernt ist, daneben der Hund mit lautem Gebell. Jón ruft ihren Namen und einen Befehl auf Deutsch, als würde sie beim Klang ihrer Muttersprache, den er kurios imitiert, besser parieren: »Stehen bleiben!« Sie steht ja. Soweit es die Wellen zulassen. Er hat sie erreicht, packt sie schimpfend, diesmal auf Isländisch, und zerrt sie an Land, wo er sie schüttelt, bis ihr schlecht wird. Sie sucht nach einer Lüge, will ihren Plan verschleiern, doch er hat alles begriffen. Er kennt die alten Geschichten, ahnte bereits, wie es um Fritzi steht, sensibel, wie er ist. Ein begabter Rimursänger, der aus dem Stehgreif Verse dichten kann, und das nicht nur unter dem Einfluss von Branntwein. Dass bei ihr keine Freude auf das Kind zu erkennen sei, hat er dem Nachbarn zugeflüstert, und sie hat es gehört.

Das Schütteln hört auf. Er gibt ihr eine Ohrfeige. So halbherzig ist sie nie zuvor geschlagen worden, sie spürt es kaum.

»Du bist eine schlechte Frau, gesund und stark, aber schwierig«, sagt er wie zur Entschuldigung.

Fritzi antwortet nicht.

»Was stimmt nicht mit dir?« Er sucht ihren Blick, sie meidet seinen. Obwohl er es war, der die Hand gegen sie erhoben hat, steht er da wie geprügelt.Aus den Ärmeln seiner Jacke tropft Wasser. Über ihren Köpfen kreist eine Raubmöwe.

»Ich bin keine schlechte Frau. Man muss nicht schlecht sein, um Schlechtes zu tun. Manchmal geht es nicht anders.«

»Das musst du mir erklären.«

Wenn sie nur wüsste, wie.

»Du hast Geheimnisse vor mir.«

»Es wäre besser, du gewöhnst dich daran.«

Im Wagen fängt er an zu heulen. Liv bittet ihn um Verzeihung. Er gibt keine Antwort, reibt unentwegt sein Handgelenk und schluchzt dabei ungeniert. Sie kommt sich vor wie der mieseste Mensch auf Erden. Die mieseste Mutter ist sie auf jeden Fall. Es ist keine Rechtfertigung, aber sie wollte nie eine sein, schon gar nicht in der damaligen Konstellation, mit Anfang zwanzig und ihrem damaligen Verlegenheitsfreund als Vater. Wäre es allein nach ihr gegangen, hätte sie abgetrieben. Stattdessen die Hochzeit. Sie hat sich nötigen lassen, ausgerechnet von ihrem Großvater, kein anderer hätte sich das erlauben können. Seitdem hat er sich nie wieder in ihr Privatleben eingemischt.

»Tut es sehr weh?«

Er schüttelt den Kopf.

»Ich schäme mich. Hörst du, es tut mir leid. Ist das angekommen?«

Erst Schulterzucken, dann wieder Kopfschütteln. Wenigstens hört die Heulerei auf.

Eine Weile fahren sie schweigend. Es ist Freitag früh, die Stadt befindet sich in der Tiefschlafphase.

»Können wir da anhalten?« Er deutet auf ein Burger-King Restaurant am Straßenrand, eine Insel aus grellem Licht im nächtlichen Grau. »Ich hab Hunger.«

Sie bremst sofort, froh, irgendetwas tun zu können, das die Stimmung aufhellt. Etwas Einfaches, das mit Kaufen zu tun hat. Sie entscheiden sich für Cheeseburger, Pommes und Cola und gegen das Aussteigen, also bestellt sie am Drive-In-Schalter und parkt anschließend. Schon der Geruch, der aus der Papiertüte strömt, ist tröstlich, und die Atmosphäre im Wagen verändert sich. Kaum ist der Motor abgeschaltet, fallen sie beide über die fettige Mahlzeit her, als wären sie am Verhungern. Um das Schmatzen zu übertönen, schaltet Liv das Radio ein. Balladenpop.

»Weiß dein Vater, wo du bist?« »Nein. Er denkt, ich schlafe bei einem Freund.« »Warum lügst du ihn an?«

Aaron kaut auf seinem Strohhalm. Die Eiswürfel im Becher klackern leise. »Papa hätte sowieso nicht erlaubt, dass ich zu dem Konzert gehe, weil er deine Musik nicht ausstehen kann.«

»Eigentlich war es auch nicht für Teenager gedacht.« »Na und? Du bist meine Mutter, das reicht ja wohl für eine Ausnahme.Außerdem wollte ich dich etwas fragen.« »Was denn?«

Er holt tief Luft. Liv versucht sich zu wappnen. Seine Frage, das steht fest, wird eine Zumutung sein, sonst hätte er nicht so viel Aufwand betrieben, um sie zu stellen. Aaron zögert. Sie ermutigt ihn nicht.

»Ob ich bei dir wohnen kann.«

Liv spürt, wie ihre Gesichtszüge auf eine Weise entgleiten, die fürAaron verletzend sein muss. »Heißt das nein?« »Was?«

»Wie du guckst. Heißt das nein?«

»Nein ... Also ja. Ich meine ... nein. Nein, Aaron, du kannst nicht bei mir wohnen. Das ist ausgeschlossen.«

»Wieso?« Er fischt die letzten Pommes aus der Tüte, dem Anschein nach weder überrascht noch sonderlich enttäuscht.

Weil mir in absehbarer Zeit in deiner Anwesenheit mit Sicherheit die Hand ausrutscht – oder die Faust, denkt Liv, aber das sagt sie natürlich nicht. »Zu viel Arbeit, ich bin fast nie zu Hause. Du bist erst dreizehn und wärst dauernd allein.«

»Vierzehn. Und das Alleinsein würde mich nicht stören.«

»Mich aber. Und deinen Vater erst«, sagt Liv. »Was ist eigentlich los, habt ihr Streit?«

»Nö.«

»Hast du Schwierigkeiten mit Hanna oder deinen Geschwistern? Oder ist in der Schule .«

»Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten«, fällt Aaron ihr ins Wort und zerknüllt das Papier seines Cheeseburgers mit Hingabe. »Es läuft gut zu Hause und in der Schule, aber das langt mir nicht. Ich will mehr. Mich ödet das an. Das müsstest du doch kapieren. Kann ich ein Eis haben?«

Sie kauft ihm eins. Plötzlich findet er alles cool: den Parkplatz für mindestens dreißig Wagen, den sie für sich allein haben,bis ein älterer Mann im Kombi eintrifft und sich seine Fritten mit einem großen schwarzen Hund auf dem Rücksitz teilt, den einsetzenden Nieselregen im fahlen Schein der Straßenlaternen und am meisten sich selbst im Auto mit der miesesten Mutter der Welt.

»Weißt du,wenn es bei dir wirklich so gut läuft, wie du sagst, ist es ziemlich dumm, das aufs Spiel zu setzen.«

Er hört ihr nicht zu, starrt aus dem Fenster, als gäbe es da draußen in der nasskalten Nacht unentwegt Großartiges zu entdecken. Im Radio läuft jetzt Bruce Springsteen, eine ältere Nummer.

»Erklär mir das: Wenn ich Papa immer ähnlicher werde, wieso glaubt er dann, dass ich wie du bin?«

»Das tut er nicht wirklich«, sagt sie entschieden. »Es ist einfach ein Versuch, sich bei Konflikten aus der Affäre ziehen. Ich verstehe mein Kind nicht, also kommt es nach dem oder der Ex. Ziemlich billig von uns beiden. Vergiss es. Du bist du. Basta.«

Liv lässt den Motor an und setzt zurück. Er ist enttäuscht. »Wir können noch nicht nach Hause. Ich bin noch nicht satt.«

»Bist du doch. Jedenfalls, was diesen Drecksladen hier angeht. Und den anderen Hunger wirst du heute nicht stillen können.«

Er will erst protestieren,überlegt es sich dann anders.

Sie fahren.Obwohl sie seinen Wunsch abgeschlagen hat, wirkt das Schweigen ihres Sohnes auf Liv etwas weniger feindselig als vor dem Essen. Sie betrachtet ihn aus dem Augenwinkel. Wie er sich im Sitz lümmelt, die entvölkerten Straßen im Blick, die Hände ständig in Bewegung, das hat etwas Vertrautes. Möglicherweise sind es nur Äußerlichkeiten. Dass er aussieht wie sie, hat seinen Vater von Anfang an provoziert, während sie es geleugnet hat.Als könnte sie ihn zu nah an sich heranlassen, wenn sie die frappierenden Ähnlichkeiten anerkennt. Die sommersprossige Haut hat er von ihr, das helle, feine Haar mit dem rötlichen Glanz, die Feingliedrigkeit, die einem Jungen in der Pubertät eher zur Last fallen dürfte. Zwar ist er in den vergangenen fünf Monaten vom Kind zum Jugendlichen herangewachsen, doch er sieht unverändert zart aus. Wie sie. Und wie bei ihr ist der Eindruck von Zartheit offenbar trügerisch.

Wird er ihre Entgleisungen wiederholen und irgendwann mit fünfzehn morgens an einem Atlantikstrand vom Knirschen des Sandes zwischen den Zähnen geweckt werden, voller Blessuren, ohne Geld und ohne jede Erinnerung an die vorangegangenen Tage? Wird er folglich sein Abitur an der Abendschule machen müssen und sich damit den Weg an die besten Universitäten im Ausland verbauen, auf die ihr Exmann, ein Oxford-Absolvent, ihn so gern schicken würde? Ist es genetisch bedingt, wenn ein nächtlicher Stopp an einem Fast-Food-Restaurant Assoziationen von Aufbruch und Grenzenlosigkeit weckt?

»Das nervt.« »Was denn?« »Wie du mich anglotzt.«

Liv biegt in das Neubaugebiet Bornkamp ein. »Was du nicht sagst. Mich nervt deine unverschämte Art. Aber wir haben es ja gleich geschafft.«

Minuten später hält sie vor einem Einfamilienhaus. Hundertsiebzig Quadratmeter norddeutsche Mittelmäßigkeit. Roter Backstein, weiße Fensterrahmen, Buchsbäume im Vorgarten. Aarons Vater und seine Frau haben vor zwei Jahren gebaut, als ein viertes Kind unterwegs war.Ein Nachzügler, eigentlich ungewollt, aber nun höchst willkommen, wie sie damals irgendwie betreten versicherten, als ob es Liv zustünde, sich ein Urteil über ihre Familienplanung zu erlauben. Zuvor hatten sie im Gängeviertel gewohnt, sanierter Altbau, quasi in der Nachbarschaft. Man war sich recht oft über den Weg gelaufen .Aaron gedieh prächtig, was ihren Entschluss, auf das Sorgerecht zu verzichten, als richtig bestätigte. Manchmal ist es nötig, geradezu unverzichtbar, Lebensumstände zum Wohl aller Beteiligten zu korrigieren. Aaron hatte es gut. Ein behüteter kleiner Junge in einer heilen Familie. Kein Streuner. Er wird bestimmt nicht abhauen. So wie er vorhin geflennt hat, fehlt ihm dafür die Courage. Sie war da ganz anders in seinem Alter. Oder?

»Alle schlafen«, sagt Aaron mit Blick auf die dunklen Fenster. »Ich will niemanden wecken.«

»Dann sei halt leise.«

»Kann ich nicht doch mit zu dir?«

Sie schüttelt den Kopf. »Keine Chance.«

Er öffnet die Wagentür. Die Luft riecht nach Humus, verfaultem Laub und Regen. Mit dem Abschied geht es ihr wie mit der Begrüßung, sie weiß nicht, was sie sagen soll. Sie stellt es sich vor:Aaron und sie in ihrer großen, leeren Wohnung an den Docks, seine Klamotten, die überall herumliegen, auf dem Parkett, dem schwarzen Ledersofa. Sie müsste ihr Arbeitszimmer für ihn räumen. Das wäre machbar, sie nutzt den Raum ohnehin selten, erledigt das Meiste im Büro, daheim sitzt sie mit ihrem Notebook am liebsten am Tresen zur Küche.

Vielleicht lässt sie sich deshalb zu einem Versprechen verleiten: »Wir warten bis Ostern. Wenn du bis dahin deine Meinung nicht geändert hast, darfst du probeweise bei mir einziehen. Falls deine Eltern einverstanden sind.Aber ich rate dir dringend davon ab. Du hast ein schönes Zuhause. Mach dir dein Leben nicht schwerer als nötig.«

Aaron nickt langsam, sein Gesicht glüht vor Triumph.Als er aussteigt, sagt er: »Bis Ostern.«